Kündigung wegen Mängeln vor Abnahme: Nur wenn Fortsetzung des Vertrages bis zur Fertigstellung für den Auftraggeber nicht zumutbar!

Die Kündigungsregelung in § 4 Nr. 7 Satz 3 i. V. m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 VOB/B (2002) benachteiligt den Auftragnehmer unangemessen i. S. v. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB und ist daher unwirksam.

(BGH, Urteil vom 19.01.2023 – VII ZR 34/20)

19.01.2023 — Die Parteien des Rechtsstreites waren durch einen Nachunternehmervertrag verbunden. Der Auftraggeber war Hauptunternehmer für den Bau einer Bahntrasse, der Auftragnehmer sollte als Nachunternehmer auf angrenzenden Flächen Straßen- und Tiefbauarbeiten ausführen. Das Auftragsvolumen des NU betrug rund 3 Millionen € netto.

Nach über einem Jahr Bauzeit, der Bautenstand selbst wird im Urteil nicht mitgeteilt, rügte der Auftraggeber Mängel im Bereich der Straßenborde. Gemäß LV sollten die Rückenstützen aus Beton B 25 hergestellt werden. Es war streitig, ob sich das auf den Beton im angelieferten oder im verbauten Zustand nach vollständiger Auswertung beziehen sollte. In einigen Fällen war es wohl auch so, dass unabhängig von dieser Frage die geforderte Endfestigkeit nicht erreicht wurde. Die erforderlichen Mangelbeseitigungsarbeiten hatten ein Volumen von rund 6.000 € und hätten bei laufendem Baubetrieb in 2 – 3 Arbeitstagen erledigt werden können. Trotz mehrfacher Fristsetzung kam der NU dem Mangelbeseitigungsverlangen nicht nach, woraufhin der AG den gesamten Vertrag kündigte. Nach Fertigstellung des Projektes machte der AG Mehrkosten der Ersatzvornahme i. H. v. 4,15 Millionen € geltend.

Das Landgericht Halle war der Ansicht, bei der Kündigung habe es sich um eine freie Kündigung gehandelt und Mehrkosten der Fertigstellung könnten vom AG nicht geltend gemacht werden. Das OLG Naumburg vertrat dagegen den Standpunkt, die Kündigung sei gemäß § 4 Abs. 7 i. V. m. § 8 Abs. 3 VOB/B berechtigt gewesen, sodass dem Grunde nach ein Anspruch des AG auf Ersatz der Mehrkosten bestehen würde.

Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des OLG Naumburg auf und verwies die Sache zurück.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Vorschrift des § 4 Abs.7 VOB/B gibt dem Auftraggeber das Recht, schon vor dem vereinbarten Fertigstellungstermin bzw. vor Abnahme die Beseitigung von Mängeln zu verlangen. Das ist in einem BGB-Vertrag nicht ohne Weiteres möglich. Kommt der Auftragnehmer dem nicht nach, kann der Auftraggeber nach entsprechender Kündigungsandrohung den Vertrag gemäß § 8 Abs. 3 VOB/B kündigen. Das Problem besteht darin, dass nach dem Wortlaut der VOB/B eine Kündigung des gesamten Vertrages selbst bei relativ geringfügigen Mängeln erfolgen kann, wenn der Auftragnehmer diese nicht fristgerecht beseitigt.

Der BGH geht davon aus, dass die Einbeziehung der VOB/B in den NU-Vertrag auf Verlangen des AG erfolgt ist, sodass der AG als „Verwender“ der VOB/B anzusehen ist. Das führt dazu, dass eine sogenannte Inhaltskontrolle stattfindet, wenn die VOB/B nicht völlig unverändert vereinbart wurde (was fast nie der Fall ist). Inhaltskontrolle bedeutet dabei, dass jede Vorschrift daraufhin geprüft wird, ob sie mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelungen vereinbar ist oder die Vertragsgegenseite unangemessen benachteiligt (§ 307 BGB).

Anders als noch das Oberlandesgericht entscheidet der Bundesgerichtshof, dass § 4 Abs. 7 VOB/B als Allgemeine Geschäftsbedingung unwirksam ist. Dabei weist der BGH darauf hin, dass selbst kleinere Abweichungen dazu führen, dass die VOB/B nicht mehr „als Ganzes“ vereinbart ist.

Die unangemessene Benachteiligung sieht der Bundesgerichtshof darin, dass § 4 Abs. 7 VOB/B von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung zur Kündigung aus wichtigem Grund abweicht. Hiernach können beide Vertragsparteien den Vertrag aus wichtigem Grund kündigen, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur Fertigstellung nicht zugemutet werden kann. Zwar wurde der Vertrag bereits vor Inkrafttreten des neuen BGB-Bauvertragsrechts in 2018 abgeschlossen. Der BGH verweist jedoch darauf, dass das, was seit 2018 in § 648a BGB zur Kündigung aus wichtigem Grund geregelt ist, auch vorher schon als „Richterrecht“ gegolten hat.

Bei jeder Kündigung aus wichtigem Grund muss also eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen stattfinden. Der BGH erkennt, dass in § 4 Abs. 7 VOB/B eine solche Abwägung gerade nicht vorgesehen ist, sodass selbst unwesentliche Mängel, die den Auftraggeber nach § 640 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht einmal zur Verweigerung der Abnahme berechtigen würden, zur Kündigung aus wichtigem Grund führen können.

Die Möglichkeit, dass selbst bei Bagatellmängeln der gesamte Vertrag gekündigt werden könnte, benachteilige den Auftragnehmer unangemessen. Wörtlich schreibt der BGH: „Die Fristsetzung und die Auftragsentziehungsandrohung sind lediglich als einzuhaltende Förmlichkeiten formuliert, sodass der Auftraggeber den Vertrag auch dann aus wichtigem Grund kündigen kann, wenn der Fristsetzung kein anerkennenswertes eigenes Interesse an der fristgerechten Beseitigung der vertragswidrigen oder mangelhaften Leistung zugrunde liegt oder die Auftragsentziehung angedroht wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse an der vorzeitigen Vertragsbeendigung besteht.“

Der BGH stellt anschließend fest, dass Landgericht und Oberlandesgericht keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hatten, ob dem Auftraggeber im konkreten Fall die Fortsetzung des Vertrages unzumutbar gewesen ist. Aus diesem Grund hebt der BGH das Urteil auf und verweist den Rechtsstreit an das Oberlandesgericht zurück, damit die noch fehlenden Feststellungen nachgeholt werden können.

Dabei stellt der BGH folgende Maßstäbe für die Prüfung auf: „Eine vertragswidrige oder mangelhafte Werkleistung in der Ausführungsphase kann im Hinblick auf die zu berücksichtigende Dispositionsfreiheit des Auftragnehmers nur dann ein wichtiger Grund sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, die die Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung für den Auftraggeber begründen. Solche können sich im Einzelfall aus Umständen ergeben, die einen Bezug zu der potenziell mangelhaften oder vertragswidrigen Leistung aufweisen, sofern diese in der Gesamtabwägung so schwer wiegen, dass sie zu einer tiefgehenden Störung der für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauensbeziehung geführt haben. Ein berechtigtes Interesse des Auftraggebers, die Fertigstellung durch den Auftragnehmer nicht mehr abwarten zu müssen, kann etwa aus der Ursache, der Art, dem Umfang, der Schwere oder den Auswirkungen der Vertragswidrigkeit oder des Mangels folgen.“

Vermutlich wird der Auftraggeber den Rechtsstreit am Ende verlieren, denn es ist schwer vorstellbar, dass wegen eines Streites um die Betonfestigkeit bei ein paar Metern Bordsteinkanten die Fortsetzung eines Vertrages mit einem Volumen von 3 Million € nicht zumutbar gewesen sein soll.

Praxishinweis

In der baurechtlichen Literatur und in der Rechtsprechung wurde schon seit Jahren darüber diskutiert, ob die Kündigungsregelungen in der VOB/B als Allgemeine Geschäftsbedingungen wirksam sind. Wir haben in unserem Buch „VOB für Bauleiter“ hieran ebenfalls Zweifel angemeldet. Trotzdem gab es mehrere Gerichte, die § 4 Abs. 7 VOB/B mit unzutreffenden Begründungen für wirksam hielten.

Der Bundesgerichtshof stellt in der Entscheidung aber auch klar, dass eine Vertragskündigung wegen Nichtbeseitigung von Mängeln unabhängig von der Unwirksamkeit von § 4 Abs. 7 VOB/B wirksam sein kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Kündigung aus wichtigem Grund (§ 648a BGB) vorliegen. Die Kündigung ist demzufolge nicht „automatisch unwirksam“, sondern nur dann, wenn die notwendige Interessenabwägung ergibt, dass dem Auftraggeber die Fortsetzung des Vertrages zumutbar gewesen wäre, etwa weil es sich um relativ geringfügige Mängel gehandelt hat.

Nach unserer Auffassung hat die Entscheidung des BGH weitreichende Bedeutung, und zwar über den konkreten Fall hinaus.

Ein ähnliches Problem wie in dem vorliegenden Fall stellt sich nämlich auch bei der Kündigung gemäß § 5 Abs. 4 i. V. m. § 8 Abs. 3 VOB/B (Verzug des Auftragnehmers mit der Fertigstellung). Kann ein Auftraggeber beispielsweise den Vertrag kündigen, weil sich der Auftragnehmer seit einer Woche im Verzug befindet, selbst wenn der Auftragnehmer schon 90 % seiner Leistungen erbracht hat und vielleicht noch zwei Wochen brauchen würde, um fertig zu werden? Nach dem Wortlaut der VOB wäre dies möglich. Tatsächlich würde eine Interessenabwägung aber vermutlich dazu führen, dass dem Auftraggeber zugemutet werden kann, den Vertrag zu Ende durchzuführen. Das muss insbesondere dann gelten, wenn mit einer Kündigung des Auftragnehmers auch keine frühere Fertigstellung der geschuldeten Leistungen möglich ist.

Als Ratschlag für die Praxis kann an dieser Stelle formuliert werden, dass grundsätzlich bei jeder Vertragskündigung aus wichtigem Grund, egal ob wegen Mängeln oder wegen Verzuges oder aus anderen Gründen, die in § 648a BGB vorgesehene Interessenabwägung erfolgen muss. Nur dann, wenn der Auftraggeber sich sicher ist, dass diese Abwägung zu seinen Gunsten ausfällt und die Fortsetzung des Vertrages bis zur Fertigstellung unzumutbar ist, sollte gekündigt werden.

Außerdem behandelt der BGH in dem Urteil die Frage, ob auch dann eine Abweichung von der VOB/B vorliegt, wenn in der VOB die Möglichkeit abweichender Vereinbarungen schon vorgesehen ist. Konkret ging es in dem Urteil um die Bezahlung von Abschlagsrechnungen.

Im Nachunternehmervertrag war vorgesehen, dass von allen Abschlagszahlungen 10 % einbehalten werden und der NU diesen Einbehalt für die Vertragserfüllung durch eine Bürgschaft ablösen kann. Der BGH führt dazu aus, dass eine solche Regelung, der zufolge der Auftraggeber Abschlagszahlungen bis zu 90 % der nachgewiesenen Leistungen zu leisten hat, von § 16 Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 VOB/B abweicht, da hiernach Abschlagszahlungen in Höhe von 100 % des Wertes der jeweils nachgewiesenen vertragsgemäßen Leistungen zu gewähren sind. Also auch wenn § 17 VOB/B die Möglichkeit der Vereinbarung von Sicherheiten grundsätzlich vorsieht, liegt genau darin eine Abweichung von der VOB/B. Das wiederum bedeutet, dass auch bei allen Bauverträgen nach dem Vergabehandbuch des Bundes (VHB Bund), welche diese Formulierung vorsehen, die VOB/B nicht unverändert vereinbart ist und sowohl das hier besprochene Urteil einschlägig ist als auch die Rechtsprechung zur Unwirksamkeit der „Schlusszahlungsfalle“ in § 16 Abs. 5 VOB/B.

Die gleichen Überlegungen wird man auf die Vereinbarung einer Gewährleistungsfrist von fünf Jahren nach VOB übertragen können (das war in dem entschiedenen Fall auch diskutiert worden; der BGH hat die Frage offengelassen, weil es hierauf nicht mehr ankam).

Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass die völlig unveränderte Vereinbarung der VOB/B ein unsinniges Konzept ist. Welcher Auftraggeber will ernsthaft komplett auf Sicherheiten verzichten und es bei vier Jahren Gewährleistungsfrist belassen? Das wiederum führt zu der weiteren Schlussfolgerung, dass der Deutsche Vergabe- und Vertragsausschuss (DVA) endlich die VOB/B überarbeiten muss, sodass insgesamt eine AGB-Konformität hergestellt wird.

Zu guter Letzt ist zu überlegen, ob Auftraggeber ihre Vertragsbedingungen für die Nachunternehmervergabe ändern sollten. Zwingend notwendig ist das nicht, denn der BGH sagt ja ausdrücklich, dass bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen unabhängig von dem, was im Vertrag steht, eine Kündigung aus wichtigem Grund möglich ist. Gleichwohl könnte es sinnvoll sein, solche wichtigen Gründe für eine Kündigung wegen Nichtbeseitigung von Mängeln im Bauvertrag zu regeln. In unseren Vertragsbedingungen ist eine solche Regelung schon seit 2019 enthalten.

Hendrik Bach
Rechtsanwalt