AGB-Kontrolle von § 4 Abs.1 Nr. 1 VOB/B wegen Abwälzung der Baustellenkoordination

(OLG Stuttgart, Urteil vom 12.12.2023 – 10 U 22/23)

Das OLG Stuttgart hatte über die Klage eines Dachdecker- und Zimmereibetriebes auf restlichen Werklohn und Schadensersatz wegen Bauzeitverzögerung zu entscheiden. Dabei ging es um die „große“ Kündigungsvergütung, das heißt, die vereinbarte Vergütung abzüglich ersparter Aufwendungen und desjenigen, was der Auftragnehmer (AN) durch die „anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft“ erworben hat.

Ausgangspunkt war eine Ausschreibung der Stadt Tübingen (AG) gemäß VOB/A für Dachdeckerarbeiten an einem Gymnasialbau. Dabei verwandte die Stadt Tübingen in ihren Ausschreibungsunterlagen, genauer gesagt in den „Zusätzlichen Technischen Vertragsbedingungen (ZTV)“, folgende Klausel:

„ZTV 04 Sicherheit auf der Baustelle

Mit dem Abschluss eines Werkvertrages wird der einzelne Auftragnehmer für den auf ihn übertragenen Teilbereich der Baumaßnahmen verantwortlich. Er hat die von ihm beherrschbaren Gefahren auszuschließen, für Ordnung auf seiner Arbeitsstelle zu sorgen und die Sicherheit seiner Beschäftigten zu gewährleisten. Unternehmer, deren Leistungen auf der Baustelle zeitlich und örtlich zusammentreffen, haben sich gem. § 6 Abs. 2 UVV “Allgemeine Vorschriften” (BGV A 1/ bisherige VBG 1)“ mit den weiteren Auftragnehmern abzustimmen, um eine gegenseitige Gefährdung und nach den Bestimmungen der betreffenden Landesbauordnung die Gefährdung Dritter zu vermeiden.”

Daneben war die VOB/B als Vertragsgegenstand aufgeführt. Die VOB/B regelt in § 4 Abs. 1 Nr. 1 S. 1

Der Auftraggeber hat für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung auf der Baustelle zu sorgen und das Zusammenwirken verschiedener Unternehmer zu regeln. (…)“

Der Dachdecker- und Zimmereibetrieb erhielt den Zuschlag und begann mit der Leistungsausführung, wobei es zu erheblichen Verzögerungen kam.

Nachdem die bisher erbrachten Leistungen abgenommen waren, forderte der AG den AN zur Wiederaufnahme der Arbeiten unter Androhung einer Kündigung auf. Die Klägerin zeigte als Reaktion auf diese Kündigungsandrohung Baubehinderung an, da der AG sich noch nicht für die Materialausführung der Dachgaube entschieden hatte.

Der AN legte in der Folge zwei Schlussrechnungen, die vom AG nur anteilig beglichen wurden. Einen Vorbehalt gegen die Regelung in § 16 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B, wonach die vorbehaltlose Annahme der Schlusszahlung Nachforderungen ausschließe (sog. Schlusszahlungsfalle), hat der AN nicht erklärt.

Die sich aus diesen beiden Schlussrechnungen ergebenden Salden sind Gegenstand der Entscheidung des OLG Stuttgart.

Worüber hatte das OLG Stuttgart zu entscheiden?

Der AG legte dem mit dem AN abgeschlossenen Werkvertrag die VOB/B zugrunde, nach der der AG für die Ordnung auf der Baustelle und das Zusammenwirken der unterschiedlichen Gewerke verantwortlich ist und daneben die vorzitierte Regelung, mit der er dem AN in Abweichung von den VOB/B diese Pflicht auferlegte.

Insoweit stellte sich die Frage, ob die vorgenommene Abweichung von der VOB/B dazu führte, dass die VOB/B nicht mehr „als Ganzes“ vereinbart ist und ihr die gesetzliche Privilegierung – keine AGB-Kontrolle trotz ihres AGB-Charakters – entzogen ist, sodass sich der AG nicht mehr auf die Schlusszahlungseinrede gemäß § 16 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B berufen kann? Diese Privilegierung greift nämlich grundsätzlich nur dann, wenn die VOB/B unverändert in den zugrundeliegenden Vertrag einbezogen wird.

Die Entscheidung des Gerichts

Das OLG Stuttgart kam zu dem Ergebnis , dass die von der VOB/B abweichende Regelung in ZTV 4 dazu führt, dass die VOB/B nicht mehr „als Ganzes“ vereinbart und ihr damit die gesetzliche Privilegierung gemäß § 310 Abs. 1 S. 3 BGB entzogen ist. Denn eine AGB-Kontrolle findet bereits dann statt, so das OLG Stuttgart, „wenn die Parteien auch nur irgendeine vertragliche Abweichung von der VOB/B vereinbart haben; auf das Gewicht der Abweichung kommt es nicht an (…)“. Wie wesentlich diese Abweichung ist, ist für den Verlust der Privilegierung unerheblich. „Insbesondere bedarf es keines Eingriffs in den „Kernbereichs“ der VOB/B.“

Folglich führt jegliche vertragliche Regelung mit einem von der VOB/B abweichenden Inhalt dazu, dass diese nicht mehr „als Ganzes“ vereinbart ist und somit die einzelnen VOB/B-Regelungen der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nach den §§ 307 bis 309 BGB unterliegen.

Im Rahmen dieser Inhaltskontrolle ist nach Auffassung des OLG Stuttgart zu prüfen, ob der AN aufgrund der Abweichung von der VOB/B unangemessen benachteiligt bzw. belastet wird. Dies wird vom OLG bejaht. Der AG hat mit der Regelung in ZTV 4 eine Abweichung von § 4 Abs. 1 Nr. 1 VOB/B und damit vom Konzept der VOB/B vorgenommen, als er dem AN, statt sich selbst, die Abstimmung mit anderen Unternehmern auferlegt hat.

„Der Auftragnehmer ist zwar nach § 4 Abs. 2 Nr. 1, 2 VOB/B für die Ordnung auf seiner Baustelle verantwortlich, außerdem trifft ihn seinen eigenen Mitarbeitern gegenüber die Aufgabe, bestimmte Verpflichtungen wahrzunehmen. Jedoch betrifft die Verantwortung für die Ordnung allein seine eigene Baustelle. Die Regelung in ZTV 4 geht darüber hinaus, da danach eine Koordinierungspflicht des Auftragnehmers/Unternehmers auch bei einem bloßen Zusammentreffen der Leistungen der verschiedenen Unternehmer begründet wird, auch wenn dieses nicht auf der Baustelle des Auftragnehmers erfolgt. Außerdem stellt eine Koordinierung etwas anderes als die Einhaltung der Ordnung dar. Dabei liegt hier die Koordinierungspflicht nach § 4 Abs. 1 VOB/B 2012 eigentlich beim Auftraggeber.“

Folglich unterfallen die einzelnen Regelungen der VOB/B der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB, der § 16 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht standhält, wie das OLG Stuttgart begründet. Denn die Schlussrechnungsfalle in § 16 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B weiche derart gravierend von den Regelungen des BGB ab, dass diese gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist.

Im Ergebnis kann sich der AG mithin nicht auf die Schlusszahlungseinrede berufen, sodass der AN einen Anspruch auf Zahlung des Restwerklohns in der geltend gemachten Höhe hat.

Hinweis für die Praxis

Diese Entscheidung des OLG Stuttgart zeigt einmal mehr, welche Tücken die baurechtliche Vertragsgestaltung bei Einbeziehung der VOB/B parat hält. Insbesondere gerade deshalb, weil die AGB-Kontrolle der einzelnen VOB/B-Klauseln schon dann eröffnet ist, wenn auch nur „irgendeine Abweichung von der VOB/B“ vereinbart wird! Soweit früher bestimmte Anforderungen an die Qualität der vertraglichen Abweichungen von der VOB/B gestellt wurden, kommt es inzwischen nicht mehr darauf an, welches Gewicht der jeweilige Eingriff hat. Insoweit ist bei der Gestaltung von Bauverträgen besondere Sorgfalt an den Tag zu legen, wenn es darum geht, zusätzliche Regelungen zur VOB/B aufzustellen, damit diese die unveränderte Einbeziehung nicht gefährden, sondern lediglich ergänzende Funktion haben. Falls jedoch von der VOB/B abweichende Regelungen gefasst werden oder einzelne – für den Verwender ungünstige – Regelungen abbedungen werden, muss sich der Verwender darauf einstellen, dass im Streitfall auch die für ihn günstigen Regelungen der VOB/B nicht mehr gelten.

Falls Sie Unterstützung bei der rechtssicheren Gestaltung von Bauverträgen, aber auch Werk- oder Kaufverträgen sowie Verkaufs- und Lieferbedingungen oder Einkaufsbedingungen, benötigen, beraten wir Sie gerne.

Chantal Hasselbach
Rechtsanwältin