Preisgleitklauseln wegen des Ukraine-Krieges auch im Frühjahr 2023

1. Der Auftraggeber bürdet Bietern ein ungewöhnliches Wagnis auf, wenn er von diesen feste Preise für die im Erlass des BMWSB vom 25.03.2022 zum Russland-Ukraine-Krieg genannten Stoffgruppen einfordert, obwohl zu Beginn des Krieges rund 30 % der hiesigen Bitumenversorgung in Abhängigkeit von den Erdölimporten aus Russland erfolgten.

2. Eine Vergabekammer darf die Erlasse des BMWSB und der Länder zwar nicht als unmittelbar anzuwendendes Vergaberecht normativ anwenden, weil es sich um Binnenrecht der Behörden handelt. Sie kann die Erlasse aber als unmittelbar zu würdigende Erkenntnisquelle des Sachverhaltes anwenden.

(VK Lüneburg, Beschluss vom 01.02.2023, VGK-27/2022)

01.02.2023 — Das Land Niedersachsen schrieb Ende 2022 einen Bauauftrag über Dachabdichtungsarbeiten und Dachbegrünung im Offenen Verfahren aus. Die Laufzeit des Vertrages sollte am 20.01.2023 beginnen und am 26.07.2024 enden. Die Ausführungszeit für die Herstellung der ausgeschriebenen Bauteile wurde mit einem Zeitraum von Februar bis August 2023 angegeben. Die Inbetriebnahme sollte im Juli 2024 erfolgen. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Ein Bieter rügte unter Hinweis auf den noch laufenden Ukraine-Krieg das Fehlen einer Preisgleitklausel. Der Auftraggeber half der Rüge mit der Begründung nicht ab, dass die Preise der maßgeblichen Stoffe in den letzten Monaten stabil geblieben seien. Es sei somit nicht von einer Preissteigerung auszugehen, tendenziell würden weiter fallende Preise erwartet. Der Bieter stellte daraufhin Nachprüfungsantrag vor der Vergabekammer Lüneburg.

Die Entscheidung der Vergabekammer

Die Vergabekammer gab dem Antrag statt und setzte das Vergabeverfahren auf den Zeitpunkt vor Versand der Vergabeunterlagen zurück. Sie stellte fest, dass die Bieter im streitigen Vergabeverfahren in ihren Rechten aus § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A verletzt worden sind. Nach dieser Vorschrift darf dem Auftragnehmer kein unzumutbares Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkungen auf die Preise er nicht im Voraus schätzen kann. Nach Auffassung der Vergabekammer sind alle drei Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift erfüllt. So habe der Auftraggeber den Bietern erstens ein unzumutbares Wagnis auferlegt, indem er Festpreise für alle Positionen des Leistungsverzeichnisses einfordert, obwohl durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine und die verhängten Sanktionen erhebliche Veränderungen in der Bitumenversorgung bestehen. Vorliegend betrage der geschätzte Wert der Bitumenprodukte mindestens 12 % des Auftragswertes. Es handelt sich daher klar um eine kalkulationsrelevante Größe. Zum zweiten sei offensichtlich, dass sich die Umstände, die das Wagnis ausmachen, dem Einflussbereich der Bieter entziehen. Das Wagnis ist durch den Krieg zwischen Russland und der Ukraine entstanden, kein Verfahrensbeteiligter hat hierauf Einfluss. Drittens sei festzustellen, dass das Wagnis dem Bieter eine fachgerechte Kostenschätzung und Preiskalkulation einschließlich eines angemessenen Wagnisvorbehalts unmöglich macht. Zwar sei die Preisentwicklung der letzten Monate stabil geblieben. Die lineare Prognose aus den Ereignissen der Vergangenheit auf die Ereignisse der Zukunft sei bei dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine aber unmöglich, weil der unberechenbare Verlauf des Krieges einschließlich der ebenfalls unberechenbaren wirtschaftlichen Folgen jederzeit zu nicht vorhersehbaren spontanen Erweiterungen führen kann. Es ist jederzeit möglich, dass nach dem Wegfall von 30 % der bisherigen Bitumenversorgung der Markt weitere Veränderungen erleidet, die zu großen Preisausschlägen führen können.

Die Vergabekammer stellt des Weiteren fest, dass dem Auftraggeber mit der Anwendung der Stoffpreisgleitklausel ein schon länger eingeführtes, einfaches und effizientes Verfahren zur Verfügung stünde, welches sowohl das Risiko von Preissteigerungen zugunsten des Auftragnehmers als auch das Risiko von Preissenkungen zugunsten des Auftraggebers in fairer und transparenter Weise verteilt. Darüber hinaus sei durch den Erlass des BMWSB ein neues Formular 225A VW eingeführt worden, welches die Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel vereinfacht. Zwar hätten die vom BMWSB sowie dem Land Niedersachsen eingeführten Erlasse keine unmittelbare normative Wirkung. Vielmehr handelt es sich um verwaltungsinternes Binnenrecht, das von nachgeordneten Behörden verpflichtend anzuwenden ist, für außerhalb der Behördenhierarchie stehenden Institutionen wie die Vergabekammer jedoch nicht zu einer Anwendungspflicht führen. Die Vergabekammer darf diese Verwaltungsvorschriften allerdings als wichtige Erkenntnisquellen nutzen, um daraus eine praxisnah aktuelle Einschätzung der Situation zu gewinnen.

Praxishinweis

Die Entscheidung der VK Lüneburg liegt auf einer Linie mit der Entscheidung der VK Westfalen vom 12.07.2022 (VK 3-24/22). Diese hat entschieden, dass der Ukraine-Krieg als Ereignis anzusehen ist, welches den Bietern ohne Preisgleitklausel eine kaufmännisch vernünftige Kalkulation jedenfalls im April 2022 unmöglich machte. Dem folgte die VK Lüneburg im vorliegenden Fall, weil der Krieg immer noch nicht vorbei ist, und auch das BMWSB in einem Schreiben aus Dezember 2022 die Wirkung seiner Erlasse bis Mitte 2023 verlängert hat. Interessanterweise sah die VK Lüneburg in der Nichtanwendung einer Stoffpreisgleitklausel auch einen Eingriff in den Wettbewerb, weil dies Bieter bevorteile, die in der Lage sind, sich mit einer erheblichen Materialbevorratung von kurzfristigen Preisschwankungen unabhängig zu machen. Alles in allem ist die Entscheidung der VK Lüneburg zu begrüßen, weil das Vergaberecht den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, sich wettbewerbsrechtlich fair zu verhalten. In Anbetracht des noch laufenden Ukraine-Krieges und seiner möglichen unkalkulierbaren Folgen ist daher weiterhin die Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln erforderlich.

Dr. Ulrich Dieckert
Rechtsanwalt