„Wir sind davon ausgegangen“-Nachträge: Substantiierungspflicht nicht überspannen

1. Welche Leistungen durch die Leistungsbeschreibung erfasst sind, ist durch Auslegung der vertraglichen Vereinbarung der Parteien zu ermitteln. Dabei sind das gesamte Vertragswerk und dessen Begleitumstände zugrunde zu legen. Dazu gehören auch im Rahmen einer Ausschreibung vorgelegte Planungen.

2. Das Tatsachengericht muss auch die im Rahmen der Ausschreibung vorgelegten Unterlagen bei der Auslegung des Vertrags berücksichtigen und den angebotenen Sachverständigenbeweis zu einer technischen Frage erheben.

(BGH, Beschluss vom 29.03.2023 – VII ZR 59/20)

Eine Arbeitsgemeinschaft beauftragte einen Nachunternehmer mit Straßenarbeiten in einem Tunnel, an der Oberfläche und mit Baumaßnahmen zur Durchführung der vorläufigen Verkehrsführung. Der NU rechnet in diversen Nachträgen in einer Größenordnung von rund 1,3 Mio € Erschwernisse ab, die sich daraus ergeben sollen, dass er im Rahmen der Auftragskalkulation auf der Grundlage der damals vorliegenden Unterlagen von einer deutlich geringeren Anzahl an Umlegungen kalkulieren durfte. Es handelt sich also um „Wir sind davon ausgegangen“-Nachträge.

Das Landgericht München hat die Klage abgewiesen, das OLG München hat die Berufung zurückgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Mehrvergütung gemäß § 2 Nr. 5 VOB/B. Die Notwendigkeit von Umlegungen der provisorischen Verkehrsführung sei unstreitig Vertragsbestandteil. Die Klägerin mache geltend, sie habe mit einer geringeren Anzahl von Umlegungen kalkulieren dürfen, als tatsächlich erforderlich geworden sei. Es lasse sich aber keine Veränderung der Leistung im Vergleich zum Vertragssoll feststellen, weil eine Anzahl von möglichen Umlegungen im Leistungsverzeichnis nicht genannt sei. Den Angaben im LV lasse sich nicht entnehmen, dass tatsächlich eine zahlenmäßig begrenzte Anzahl von Umlegungen vorab ersichtlich gewesen sei. Dies gelte auch unter Heranziehung der außerhalb des Vertragstextes liegenden zusätzlichen Umstände, wie etwa dem Phasenübersichtsplan. Aus den als Anlagen vorgelegten Darstellungen werde nicht ersichtlich, weshalb der NU von einer verbindlichen oder annäherungsweisen Anzahl der erforderlichen Umlegungen habe ausgehen können. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens hierzu haben Landgericht und Oberlandesgericht abgelehnt.

Entscheidung des Gerichts

Der Bundesgerichtshof findet harte Worte zu diesem Vorgehen des OLG München. Es liege ein Verstoß gegen das Grundgesetz Art. 103 Abs. 1 vor, wenn das Gericht die Anforderungen an den Prozessvortrag offenkundig überspannt und es dadurch versäumt, den Sachvortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben. Gehe es um die Beurteilung einer Frage, deren Beantwortung Fachwissen voraussetzt, dürfe das Gericht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn es entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Das sei aber bezüglich der Beurteilung der von Nachunternehmern vorgelegten technischen Unterlagen nicht der Fall gewesen. Wörtlich schreibt der BGH:

Die Klägerin hat in der Berufungsbegründung im Einzelnen dargelegt, warum sie davon ausgegangen sei, dass sich aus der im Rahmen der Ausschreibung vorgelegten Phasenübersichtstabelle eine Anzahl von 10 Umlegungen der Verkehrsführung ergäben. Mit diesen Ausführungen befasst sich das Berufungsgericht nicht, sondern führt lediglich aus, die Klägerin habe nicht erläutert, wie sie zu der von ihr genannten Anzahl von Umlegungen gekommen sei. Ob es die Ausführungen der Klägerin möglicherweise für unzutreffend oder für unerheblich hält und gegebenenfalls aus welchen Gründen, lässt sich den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht entnehmen. Vielmehr geht das Gericht auf diese – zum Kernvorbringen der Klägerin gehörenden – Ausführungen überhaupt nicht ein. Es ist daher davon auszugehen, dass es den diesbezüglichen Vortrag der Klägerin entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder insoweit offenkundig überspannte Substantiierungsanforderungen gestellt hat.

Der BGH stellt in seinem Beschluss ausdrücklich klar, dass auch die im Rahmen der Ausschreibung vorgelegten Unterlagen bei der Auslegung des Vertrags berücksichtigt werden müssen.

Was die Höhe der Nachtragsforderungen anging, meinte das OLG München, eine Bezugnahme auf Anlagen sei nicht ausreichend, die Nachtragskalkulation sei nicht aus sich heraus verständlich und es fehle ein textlicher Beschrieb. Der BGH rügt in diesem Zusammenhang, dass das OLG nicht auf den entsprechenden Vortrag in der Berufungsbegründung eingegangen sei. Aus dem Urteil erschließe sich auch nicht, welche weiteren Erläuterungen der Mehrkosten das Berufungsgericht für erforderlich gehalten habe. Auch hinsichtlich der Nachtragshöhe habe das OLG die Substantiierungsanforderungen an den Vortrag der Klägerin offenkundig überspannt.

Praxishinweis

Niemand der vor Gericht geht, um eine Forderung durchzusetzen, ist davor gefeit, dass das Gericht, im vorliegenden Fall sogar Landgericht und Oberlandesgericht, seinen Vortrag für nicht ausreichend hält, mitunter sogar völlig ignoriert. Das ist leider die Realität. Es ist aber erfreulich, dass der Bundesgerichtshof mit deutlichen Worten klargestellt hat, dass die Anforderungen an die Substantiierung von Ansprüchen sowohl dem Grunde nach als auch der Höhe nach nicht überspannt werden dürfen. Ob die Nachträge am Ende berechtigt waren, wird nach der Zurückverweisung des Rechtsstreites zu prüfen sein.

Hendrik Bach
Rechtsanwalt