Unzumutbares Kalkulationswagnis wegen Preissteigerungen aufgrund des Ukraine-Krieges

VK Westfalen, Beschluss am 12.07.2022 (VK 3-24/22)

12.07.2022 — Eine Vergabestelle hatte im Januar 2022 Rohbauarbeiten ausgeschrieben. Dem lag eine Kostenschätzung aus November 2021 zugrunde. Nach Submission hielt die Vergabestelle in einem Vergabevermerk fest, dass eine zum 21.03.2022 erfolgte neuerliche Kostenschätzung um mehr als 50 % höher ausgefallen sei als die Kostenschätzung vom November 2021. Daraufhin forderte die Vergabestelle die Bieter zur Abgabe einer Erklärung auf, dass die abgegebenen Angebote weiterhin auskömmlich seien. Da ein Bieter diese Erklärung nicht abgab, schloss die Vergabestelle sein Angebot wegen eines unangemessen niedrigen Preises aus. Hiergegen wehrte sich der Bieter mit einem Nachprüfungsantrag und verwies in diesem unter anderem auf den Erlass des Bundesbauministeriums vom 25.03.2022, wonach aufgrund des Ukraine-Krieges bei öffentlichen Vergaben Preisgleitungen zu vereinbaren seien.

Die Entscheidung der Vergabekammer

Die Vergabekammer gab den Anträgen des Bieters statt und verpflichtete die Vergabestelle, das Vergabeverfahren auf das Stadium vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und die beteiligten Bieter erneut zur Angebotsabgabe aufzufordern. Denn mit der ursprünglichen Ausschreibung habe die Vergabestelle den Bietern ein ungewöhnliches Wagnis im Sinne von § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A 2019 auferlegt. Unzumutbar sei eine kaufmännische Kalkulation dann, wenn Preis und Kalkulationsrisiken über das Maß, das Bietern typischerweise obliegt, hinausgehen. Unbeachtlich sei dabei, ob das Wagnis weder vom Auftraggeber noch vom Auftragnehmer beherrschbar ist. Vorliegend hätten die Bieter aufgrund der Preissteigerungen zu Beginn des Ukraine-Krieges nicht mehr kaufmännisch vernünftig kalkulieren können. Es sei daher nicht zumutbar, ihnen eine Erklärung in Bezug auf die Auskömmlichkeit ihrer Angebote abzuverlangen. Schon gar nicht dürfe man diese Angebote als „unangemessen niedrig“ ausschließen. Da keine Preisgleitung vereinbart worden sei, müsse das Verfahren zurückversetzt werden.

Hinweis für die Praxis

Diese Entscheidung steht im Einklang mit der Entscheidung der Vergabekammer Thüringen vom 03.06.2022. Auch diese Vergabekammer hatte festgestellt, dass der Ukraine-Krieg und seine weltweiten Sanktionsfolgen sowie die dadurch ausgelöste und noch anhaltende dynamische Entwicklung der Preise den Bietern ein ungewöhnliches Wagnis im Sinne von § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A aufbürde. Die Bieter hätten Anspruch auf die Vereinbarung einer Stoffpreisgleitklausel gehabt. Es läge daher ein Vergaberechtsverstoß vor, wenn die Aufnahme einer Stoffpreisgleitklausel durch den Auftraggeber abgelehnt wird, auch wenn die Angebotsfrist bereits abgelaufen ist und das Submissionsergebnis den Bietern bekannt gemacht wurde.

Ob die Schreiben des Bundesbauministers von 25.03.2022 und 22.06.2022 eine bindende vergaberechtliche Wirkung für Vergabestellen entfalten, die nicht der Weisungsbefugnis des Bundes unterliegen, kann dahinstehen. Denn die Pflicht zur Vereinbarung von Stoffpreisgleitklauseln ergibt sich direkt aus dem Vergaberecht. So schreibt § 9d VOB/A vor, dass eine angemessene Änderung der Vergütung in den Vertragsunterlagen vorgesehen werden muss, wenn wesentliche Änderungen der Preisermittlungsgrundlagen zu erwarten sind, deren Eintritt und Ausmaß ungewiss ist. Des Weiteren findet sich in § 7 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A die Vorgabe, dass dem Auftragnehmer kein ungewöhnliches Wagnis auf Umstände und Ereignisse aufgebürdet werden darf, auf die er keinen Einfluss hat und deren Einwirkung auf die Preise und Fristen er im Voraus nicht schätzen kann. Das Bundesbauministerium ist richtigerweise davon ausgegangen, dass eine solche Situation vorliegend aufgrund des Ukraine-Krieges gegeben ist. Dem hat sich nunmehr auch die Rechtsprechung der Vergabekammern angeschlossen. Bietern ist zu raten, von den Vergabestellen die Vorgabe von Preisgleitklauseln zu verlangen und im Weigerungsfall vergaberechtliche Rügen unter Berufung auf die o. a. Entscheidungen auszusprechen.

Dr. Ulrich Dieckert
Rechtsanwalt